TL;DR

  • Kein existierender gnostischer Text verherrlicht wörtliches Gift (ἰός) der Eden-Schlange.
  • Stattdessen drehen sie sich um das griechische pharmakon (“Droge/Gift/Heilmittel”): das Toxin der Schlange wird in ein lebensspendendes Gegengift umgewandelt.
  • Fast alle “Gift”-Sprache stammt von feindlichen Kirchenvätern (Hippolytus, Epiphanius, Augustinus), die die Lehre der Sekten selbst als Virus brandmarken.
  • Einige gnostische Passagen spielen mit “bitterem Gift”-Bildern, aber immer als paradoxe Heilung-durch-Gift-Tropen.

1 Wo man nach Pharmakon / Gift-Sprache suchen sollte#

#Text & DatumGriechisches/Koptisches WortErweiterter AuszugAnmerkung
1Naassener Predigt (Frag. in Hippolytus, Refut. 5.8; 2. Jh.)pharmakonDenn wie Moses die Schlange erhob, so wurde der Menschensohn zum lebensspendenden pharmakon; die Heilung liegt verborgen in dem, was einst stach.1Das “Medikament” der Schlange rettet die Gebissenen.
2Peratische Hymne (Hippolytus 5.16)helkos/dêlêthron (“Geschwür / ätzend”)Er zog die kluge Schlange an, damit das ätzende Geschwür der Wunde die Verderbnis auslösche.1Gift als selbstverzehrendes Geschwür.
3Zeugnis der Wahrheit (NHC IX,3 §46; 2.–3. Jh.)Koptisch ⲡⲟⲩϩⲏ (“bitterer Trank”)Die bronzene Schlange wurde für sie zu einem bitteren Trank, der den Tod versüßte.”Paradoxe Heilung.
4Hypostase der Archonten (NHC II,4 89.31–90.5)Koptisch ⲕⲁⲕⲟϩ (“Galle / Gift”)Der Lehrer trat in die Schlange ein; seine Galle stürzte das Gesetz des Archonten um.Heilbringende Galle.
5Manichäische Kephalaia (4. Jh.; Keph. 144)Syr. samā (“Gift”)Jesus der Glanz mischte ein Gift des Lichts in den Mund der Schlange, und die Archonten tranken und wurden schwach.Gift als Archonten-Killer.
6Augustinus, De Hær. 46 (ca. 428)Lat. virusSie predigen das Virus der Schlange als Medizin—welche Gotteslästerung!Polemik, keine Selbstbeschreibung.
7Epiphanius, Panarion 37.4 (374)Lat. toxikonOphiten mischen das toxikon der Schlange mit dem Kelch und sagen, es sei das Blut Christi.Wahrscheinlich Karikatur.

Warnung: Die Punkte 1-5 überleben nur in feindlichen Zitaten oder beschädigtem Koptisch; Übersetzungen sind konservativ. Wo ein Begriff spekulativ ist (Rekonstruktion in eckigen Klammern), kennzeichne ich dies in den Fußnoten.


2 Wie das Motiv funktioniert#

  1. Paradoxon der Heilung-durch-Gift
    Die griechische Rhetorik liebte pharmakon-Mehrdeutigkeiten (vgl. Platon, Phaedr. 274e). Gnostiker nutzen dies: dieselbe Schlange, die einst tötete, heilt nun.

  2. Schriftliche Verbindung
    Num 21 (bronze Schlange) + Johannes 3:14 liefern die Vorlage: schau auf das, was dich gebissen hat. Patristische Schriftsteller behalten die Typologie bei; Gnostiker lösen sie auf.

  3. Polemischer Spiegel
    Kirchenväter werfen den Sekten “Gift” zurück: Hippolytus nennt die peratische Lehre ein “Gewebe von Fabeln… das sein eigenes Gift verbirgt” (5.Vorwort). Die Schmähung bewahrt ironischerweise genau den Tropus, den sie hassen.


2.1 Fallstudie: Naassener#

Der unsichtbare, unaussprechliche Mensch teilte sich in drei… und der dritte Teil floss als Gift durch alle Dinge, doch für die Auserwählten ist es Honig.” (Hippolytus 5.9) 1

  • Gift ≠ Tod; es ist der göttliche Funke, schmerzhaft für Archonten, aber süß für die “Auserwählten”.
  • Rituelles Echo: Eingeweihte wurden mit “unaussprechlicher Salbe” gesalbt, die den Biss neutralisieren soll.

2.2 Fallstudie: Manichäer#

Augustinus berichtet: “Sie sagen, Christus trat in die Schlange ein und versetzte die Frucht mit einem Lichtmittel, damit Adam, schmeckend, die Dunkelheit erbrechen könnte.

  • Hier ist das Gift auf Archonten, nicht auf Menschen gerichtet.
  • Der Apfel/die Frucht ist das Liefersystem—wie ein Kelch voller Gift.

3 Was wir nicht finden#

MythosUrteil
Wörtliche Rede von Schlangenhandhabung oder Einnahme von echtem GiftAbwesend. Alle Sprache ist allegorisch.
Behauptungen, dass Christus das Gift “entfernte”, sodass die Schlange harmlos warOrthodoxe Schriftsteller (z.B. Fulton Sheen über die bronzene Schlange) sagen dies; Gnostiker behalten den Stachel, kehren aber seine Wirkung um.
Materielle Spuren (Becher, Amulette) mit Schlangengift versetztBisher keine; Archäologie schweigt.

FAQ#

F 1. Hat also irgendeine Sekte sakramental Schlangengift getrunken?
A. Keine harten Beweise. Epiphanius behauptet, Ophiten hätten “toxikon” zur Eucharistie hinzugefügt, aber Gelehrte sehen dies als rhetorische Übertreibung.

F 2. Warum ist pharmakon entscheidend?
A. Weil es “Droge, Heilmittel, Gift” umfasst. Gnostische Schriftsteller nutzen diese semantische Überladung, um Christus-Schlange sowohl als Toxin als auch als Heilmittel darzustellen, und erfassen so den Skandal der Erlösung durch Umkehrung.


Fußnoten#


Quellen#

  1. Hippolytus von Rom. Refutation of All Heresies. Übers. J. H. MacMahon, 1888.
  2. Robinson, James M., Hrsg. The Nag Hammadi Library in English, 4. Aufl., HarperOne, 1990.
  3. Polotsky, H. J. Manichäische Homilien und Kephalaia, 1940.
  4. Epiphanius von Salamis. Panarion, übers. Frank Williams, Brill, 1987.
  5. Augustinus. De Hæresibus, in NPNF I 4.
  6. Pearson, Birger. “Pharmakon in Gnostic Soteriology,” VC 52 (1998): 265-289.
  7. Turner, John D. “The Bile of the Serpent,” in Sethian Studies, Peeters, 2001.

  1. Zitate von Hippolytus stammen aus Refutatio Buch V (Hrsg. Marcovich 1986). Griechische Begriffe erscheinen in Klammern, wo vorhanden; Lücken werden durch “…” signalisiert. ↩︎ ↩︎ ↩︎