Zusammenfassung

  • Das Enūma Eliš beginnt mit einem Kosmos, der ohne Namen existiert, und daher ohne feste Rollen.
  • Zwei Verben—nabû und zakāru—kennzeichnen das Benennen als einen performativen Sprechakt, der die Realität abschließt.
  • Das Chaos vor der Benennung ist nicht atheistisch; Gottheiten (Apsû & Tiamat) schwimmen bereits darin.
  • Sobald Marduk den göttlichen Krieg gewinnt, weist er fünfzig Namen zu und fixiert damit das kosmische Aufgabenverzeichnis.
  • Genesis 1 und vedische Hymnen spiegeln dieselbe Logik wider: Schöpfung = Trennung + Benennung.

1 Die Akkadische Zeile, Wort für Wort#

KeilschriftTransliterationwörtliche ÜbersetzungAnmerkung
Enūmaenūmaalstemporales Adverb
elišelišobenlokativ “oben”
nichtNegation
nabûnabû(war) benanntG-perf., Wurzel “rufen”
šamāmušamāmuHimmelduale Himmelsgewölbe
šaplīš ammatušaplīš ammatuunten Erde“Grundwasser” Brei
šumma lā zakratūšumma … zakratūwar nicht genannt wordenpoetisches Synonym für nabû

Text nach W. G. Lambert, Babylonian Creation Myths (2013).


2 Warum Benennung = Schöpfungstechnik#

  1. Sprechakte waren in Mesopotamien rechtliche Instrumente; das Aussprechen einer Formel bewirkte Eigentumsübertragungen und Flüche.
  2. Die Götter erhalten Titel (𒌓 dUTU “Sonnengott,” 𒀭𒀀𒉡 dAN “Himmelgott”), die zugleich als funktionale Spezifikationen dienen.
  3. Marduks Ehrenliste nach dem Krieg („Er soll genannt werden …“) verbindet jeden seiner fünfzig Namen mit einem Bereich—Wind, Medizin, Gerechtigkeit—den Priester dann anrufen konnten.

„Sprache beschreibt nicht den Kosmos; sie stabilisiert ihn.“ —Robson, Language and Cosmos in Greece and Mesopotamia (2023). 1


3 Kosmologischer Statusbericht#

PhaseZustand der MaterieZustand des Gesetzes
Vor der BenennungWässriges Gemisch, keine Himmel-Erde-TrennungKeine Schicksale, keine Zuständigkeiten
TrennungTiamat gespalten → Himmelsdach / ErdbodenSchicksalstafel umkämpft
BenennungSternbilder, Kalender, Flussbetten benanntGöttliche Bürokratie aktiviert

Benennung ist das endgültige Siegel nach gewaltsamer Kosmogonie und räumlicher Trennung.


4 Vergleichende Blicke#

TextVor-Kosmos-ZeileErster schöpferischer Akt
Enūma Eliš“Als oben der Himmel noch nicht benannt war …”Marduk tötet Tiamat → benennt alles
Genesis 1“Die Erde war formlos”Elohim trennt, dann nennt Tag/Nacht
Rig Veda 10.129“Es gab weder Nichtsein noch Sein”Die Götter nannten die Himmelsrichtungen
Hesiod, Theogonie“Chaos war zuerst”Entitäten erscheinen bereits benannt—Griechisch überspringt die Spannung

5 Häufig gestellte Fragen#

F1. Bedeutet „kein Name“, dass die Götter noch nicht existierten?
A. Nein. Apsû und Tiamat sind vorhanden, haben aber keine definierten Rollen; das Fehlen von Namen blockiert bürokratische Macht, nicht die Existenz.

F2. Ist nabû immer göttliche Rede?
A. Nein—Akkadische Verträge verwenden dasselbe Verb; jede autoritative Benennung (königlich, rechtlich oder göttlich) kristallisiert die Realität.

F3. Haben die Hebräer das Benennungsmotiv aus Babylonien übernommen?
A. Die Parallele ist stark, aber die wissenschaftliche Meinung ist gespalten zwischen direkter Übernahme während des Exils und konvergenter vorderasiatischer Erzählungslogik.


Fußnoten#


Quellen#

  1. Lambert, W. G. Babylonian Creation Myths. Eisenbrauns, 2013.
  2. Robson, E. “Language and Cosmos in the Epic of Creation.” In Language and Cosmos in Greece and Mesopotamia, Cambridge UP, 2023. 2
  3. Heidel, A. The Babylonian Genesis. University of Chicago Press, 1951.
  4. Mark Damen, “Mesopotamian Literature: Enūma Eliš.” Utah State University lecture notes, 2024. 3
  5. Brill, A History of Akkadian Onomastics, 2021. 4
  6. Wikipedia contributors. “Enūma Eliš.” Last modified 2025-05-30. 5