TL;DR
- Mindestens zehn antike Strömungen—Naassener, Peraten, Ophiten, Kainiten, mehrere Sethianische Abhandlungen und die Manichäer—erheben die verblüffende Behauptung, dass Christus = die Eden-Schlange sei.
- Sie lesen Num 21 + Joh 3 typologisch, kollabieren dann aber die Typologie: die genaue Schlange, die Eva “verführte”, wird zum Luminösen Offenbarer.
- Die meisten Systeme integrieren dies in einen größeren Demiurg vs. Sophia/Logos Mythos: das “Gift” der Schlange ist salvatorische Gnosis, die unter den Nasen feindlicher Archonten geschmuggelt wird.
- Orthodoxe Kirchenväter bewahren diese Zitate nur, um sie zu widerlegen—unser einziges Fenster in den Glauben.
1 Motive & Mechanismen#
- Schlange als Maske: Der Logos oder Sophia “legt” die ophidische Form an, um die Quarantäne des Demiurgen zu umgehen.
- Wissen als Gegenmittel: Was die orthodoxe Theologie als Gift brandmarkt, wird zum Pharmakon; das Essen der Frucht ist eucharistisch.
- Erhöhte Schlange = Gekreuzigter Christus: Joh 3,14 wird wörtlich gelesen; die bronzene Schlange und die Edenische Schlange werden verschmolzen.
2 Primärzeugen (ausführliche Auszüge)#
# | Gruppe / Text (Jahrh.) | Schlüsselzitat | Status |
---|---|---|---|
1 | Naassener – Hippolytus, Refut. 5.6-11 (2. Jh.) | “Die Schlange (Naas) durchdringt alle Dinge … Dies ist der Menschensohn, der herabstieg und erhöht wurde. Denn wie Mose die Schlange erhob, so wurde auch die Christus-Schlange erhöht, damit alle, die auf Ihn schauen, leben mögen.” (Gr. ὁ ὄφις ὁ διὰ παντὸς φαιδρύνων…) | Explizit |
2 | Peraten (Peraten) – Refut. 5.16 (2. Jh.) | “Unser Herr nahm die Form der klugen Schlange (φρονίμου ὄφεως) an, damit Er durch die Schlange die Werke der Schlange aufheben könnte.” | Explizit |
3 | Ophiten – Epiphanius, Pan. 37.1 (4. Jh. Bericht) | “Sie bevorzugen die Schlange nicht vor Christus—sie sagen, die Schlange sei Christus und der gleichen Verehrung würdig.” | Explizit |
4 | Kainiten – Pan. 38.1 | “Sie verherrlichen Kain und segnen die Schlange, indem sie sie ‘Christus, den Erstgeborenen’ nennen.” | Explizit |
5 | Zeugnis der Wahrheit (NHC IX,3; 2.–3. Jh.) | “Mose machte eine bronzene Schlange … denn dies ist Christus; wer an diese Schlange glaubte, glaubte an das lebendige Wort und erhielt Leben.” (45.31-47.4) | Explizit |
6 | Hypostase der Archonten (NHC II,4) | “Die Schlange wurde der Lehrer genannt … Sophia trat in die Schlange ein und lehrte sie das vollständige Wissen des Vollkommenen Menschen.” (89.31-90.12) | Implizit—Schlange als Sophia-Christus Gefäß |
7 | Ursprung der Welt (NHC II,5) | “Sophia-Zoe hauchte ihre Kraft in die Schlange, die die klügste von allen wurde. Er lehrte sie, damit sie den Vollkommenen Menschen erreichen könnten.” (118.24-121.13) | Implizit |
8 | Apokryphon des Johannes (NHC II,1) | “Es war nicht, wie die Archonten dachten; vielmehr war es die Epinoia des Lichts, die in der Form einer Schlange erschien und ihnen riet zu essen, damit sie sich an ihre Fülle erinnern könnten.” (26.15-27.22) | Implizit |
9 | Trimorphe Protennoia (NHC XIII,1) | “Ich trat in ihre Mitte in der Form einer leuchtenden Schlange, damit ich ihnen die seit Anbeginn verborgenen Geheimnisse offenbaren könnte.” (38.20-39.5) | Explizit—Erste-Person Logos |
10 | Manichäer – Augustinus, Haer. 46; Theodor bar Konai, Scholien II (3.–4. Jh.) | Augustinus: “Sie behaupten, dass Jesus Glanz in die Schlange eintrat und Adam zum Essen überredete, das Licht zu befreien, das schlummerte.” Theodor: “Die Schlange, die mit Eva sprach, war Jesus der Leuchtende, gekommen, um das Paar zu erwecken.” | Explizit |
Hinweis zu Sethianischen Abhandlungen: Die Punkte 5–9 repräsentieren verschiedene Traktate, stammen jedoch aus einem gemeinsamen Sethianischen Milieu; jeder verstärkt die ophidische Christologie, während die dramatis personae (Sophia, Epinoia, Protennoia) variieren.
3 Doktrinäre Bedeutung & Rezeption#
Tradition | Zentralität des Schlange-Christus Motivs | Weitere mythische Rolle | Patristische Widerlegung |
---|---|---|---|
Naassener / Peraten | Kernidentität—Schlange ist der manifestierte Logos | Alchemistische Kosmologie; Wasser-Schlange als generative Kraft | Hippolytus widmet zwei ganze Bücher der Analyse |
Sethianischer Korpus | Wiederkehrend, aber variabel; Schlange kanalisiert Sophia/Christus | Befreiung von Archonten durch Gnosis | Irenäus, Epiphanius zitieren als Höhepunkt der “Blasphemie” |
Manichäismus | Integral: Erste Mission von Jesus Glanz | Lichtpartikel-Extraktion von Adam & Eva | Augustinus widmet Haer. 46 + Conf. 3 der Widerlegung |
Ophiten / Kainiten | Identitätsmerkmal (Name leitet sich von ὄφις ab) | Anti-Demiurgische Umkehrung: Schurken → Helden | Epiphanius nennt sie “Schlangenverehrer” |
FAQ#
F 1. Haben sich jemals Mainstream-Kirchenschriftsteller mit dieser Identifikation beschäftigt?
A. Nur typologisch: z.B. sieht Justin der Märtyrer, Dial. 94 die bronzene Schlange als Figur der Kreuzigung, nennt aber die Gartenschlange weiterhin “den Teufel”. Kein Kirchenvater setzt Christus mit der Edenischen Schlange gleich.
F 2. Gibt es archäologische Beweise für die Verehrung der Schlange-Christus?
A. Keine direkten. Die Sekten hinterließen kaum materielle Kultur; unser Wissen ist fast ausschließlich literarisch—koptische Kodizes plus feindliche griechische/lateinische Berichte.
F 3. Wie unterscheidet sich dies von späteren kabbalistischen “Nachash-Messias”-Spekulationen?
A. Die mittelalterliche Kabbala spricht von Mashiach ben Joseph, der den Nachash zerschmettert; sie setzt sie nicht gleich. Der gnostische Schritt ist kühner: Identität, nicht Eroberung.
Fußnoten#
Quellen#
- Hippolyt von Rom. Refutation of All Heresies. Loeb Classical Library 21, 1921.
- Epiphanius von Salamis. Panarion. Übers. Frank Williams. Brill, 1987.
- Robinson, James M., Hrsg. The Nag Hammadi Library in English. 4. Aufl. HarperOne, 1990.
- Pearson, Birger A. Gnosticism, Judaism, and Egyptian Christianity. Fortress, 1990.
- Turner, John D. “The Sethian Gnostic Background of Trimorphic Protennoia.” VC 47 (1993): 215-243.
- Augustinus. De Haeresibus 46; Confessiones III. In NPNF I 4.
- Theodor bar Konai. Scholien II. Syrischer Text & engl. Übers. in Chabot (1912).
- Pagels, Elaine. The Gnostic Gospels. Vintage, 1989.
- King, Karen L. What Is Gnosticism? Harvard Univ. Press, 2003.
- Luttikhuizen, Gerard P. Gnostic Revisions of Genesis Stories and Early Jesus Traditions. Brill, 2021.